Was charakterisiert die Architektur des Nordens und welchen Einfluss haben der Ort und die Landschaft auf die Architektur?
Wenn wir Bauwerke betrachten, erkennen wir in der Regel die architektonische Sprache – die Art und Weise, wie die Architektur mit uns spricht durch Materialien, Formen und Baustil. Die meisten von uns werden auch bestätigen, dass wir den Unterschied zwischen einem nordischen Haus und einem japanischen Haus erkennen können, denn es besteht sowohl eine sichtbare wie auch eine gefühlsmässige Differenz. Die Unterschiede liegen somit nicht nur in dem, was wir sehen und erkennen können, sondern auch in dem, was wir nicht sehen können. Hierin liegt eine wichtige Erkenntnis in Bezug auf das Potential der Architektur als Reflektionsfeld kultureller Identitäten. In der Architektur wird die Kultur akzentuiert in unseren Wunsch nach Leben, Wohnen und Sein. Wie eine Architektur aussehen kann, die dem Menschen ebenso gerecht wird wie der Natur – das erfährt man gegenwärtig am ehesten in den skandinavischen Ländern. Denn das Geheimnis der nordischen Architektur war schon immer deren enges Verhältnis zur Landschaft.
Architektur für Autofahrer
Wie weckt man das Interesse der globalen Tourismusindustrie und schützt zugleich die Ressource Natur? Rastplätze und Aussichtspunkte in zeitgenössischer Architektur, moderne Kunst am Strassenrand? In Norwegen führen Strassen fast immer durch eine spektakuläre Natur, was in jedem Sommer viele Autotouristen anlockt. 1998 beschloss das norwegische Parlament, eine hohe Summe an Gelder in den Bau von Parkplätzen, Wanderwegen und Informationstafeln zu investieren. Norwegens einzigartige Landschaft sollte besser erreichbar sein, die neuralgischen Punkte des Naturspektakels für die Autofahrer vermehrt in Szene gesetzt werden und die Übergänge zwischen Strasse und Natur ästhetisch und ökologisch kontrolliert werden. Naturliebhaber hinter Windschutzscheibe und Lenkrad – ein Widerspruch, den das norwegische Strassenbauamt aufzulösen versucht. Das norwegische Strassenbauamt, die Architekten, Landschaftsarchitekten, Ingenieure und Künstler hatten bei ihrer Arbeit mehrere Kriterien zu erfüllen: Die verwendeten Materialien mussten wetterfest sein – so griffen sie vor allem auf Stein, Beton, Metall, Holz und auch Glas zurück. Ausserdem hatte sich die Architektur den natürlichen Gegebenheiten anzupassen, und sie sollte ästhetisch anspruchsvoll sein. Sie fügt sich harmonisch in die Natur ein oder steht in scharfem Kontrast zu ihr. Die Landschaft wird auf so wirkungsvoll in Szene gesetzt. Dabei wird nicht vorgegaukelt, dass es sich um unberührte Natur handelt – selbst eine Landschaft wie diejenige Norwegens ist von Menschen gestaltet.
Trollstigen
Ebenso majestätisch wie die Bedeutung ihrer Namen recken Bispen (Bischof), Kongen (König) und Dronningen (Königin) ihre schneebedeckten Spitzen gen Himmel. Zwischen den drei Bergen stürzt der Wasserfall Stigfossen 180 Meter in die Tiefe. Wenige Kilometer entfernt beginnt der berühmte Geirangerfjord. Inmitten dieser spektakulären Landschaft im Westen Norwegens befindet sich der Trollstigen, eine Passstrasse, die sich über elf enge Haarnadelkurven bis zu einer Höhe von 852 Meter die Berge hinaufwindet. Eine von den bemerkenswerteren architektonischen Sehenswürdigkeiten auf der «Nationalen Touristenstrasse» ist die Aussichtsplattform bei Trollstigen. Das gross angelegte Architekturprojekt umfasst verschiedene Bauten, darunter ein Touristenzentrum mit Restaurant, Brücken, Fusspfade und Aussichtsplattformen, allesamt mit spektakulärer Aussicht auf die Berge und die umliegende charakteristische Fjordlandschaft. Die gestalterischen Anforderungen an das Projekt wurden im Vorhinein klar definiert.Da das Naturspektakel weiter im Vordergrund stehen sollte, durfte die Architektur nicht zu spektakulär ausfallen. Sie sollte sich vielmehr dezent in das Umfeld einfügen, ohne der Landschaft die Schau zu stehlen.
Dieses wahrlich nicht leichte Unterfangen wurde in die Hände eines einheimischen Architektenbüros gegeben, da diesem ein grösstmögliches Verständnis für die Platzierung von Architektur in die typisch norwegische Landschaft zugetraut wurde. Das Studio Reiulf Ramstad Architects aus Oslo entschloss sich dazu, bei der Umsetzung des Projekts die natürlichen Gegebenheiten direkt in die Architekturgestaltung einzubeziehen. Wie einst bei der Passstrasse wurden auch jetzt Teile der neuen Fusswege direkt in den Berg geschlagen. Bei der Wahl der Materialien und deren Farben orientierte man sich ebenfalls an den landschaftlichen Gegebenheiten und wählte Werkstoffe wie Beton oder Zement, die sich optisch in die Umgebung einfügen. Einige Geländer wurden zusätzlich mit Cor-Ten-Stahl verkleidet, dessen charakteristische rostfarbene Patina einen künstlichen Alterungsprozess simuliert und einen gelungenen farblichen Kontrast zu den übrigen Materialien bildet. Mit ihrer zackigen Form wurden die Fusspfade und Aussichtsplattformen zudem optisch an die berühmten Serpentinen der Strasse angeglichen.
Die von einheimischen Architekten entworfenen Anlagen entlang der Touristenstrasse sollen zweckmässig sein, aber auch die natürlichen Reize jedes Ortes unterstreichen und ihm «einen Namen und Charakter geben», sagt Karl Otto Ellefsen, Professor der Architektur- und Designschule Oslo. Ob diese Ziele immer erreicht wurden, muss jeder Tourist für sich selbst beurteilen. Einen Effekt haben die modernen Kleinbauwerke aber auf jeden Fall: An den in Norwegen auch im Sommer gar nicht so seltenen trüben Tagen, an denen die Wolken die Berge abschneiden und sich die Landschaft hinter einem grauen Regenschleier verliert, sind sie wohltuende Blickfänge in der Natur.